I. Köhler u.a. (Hrsg.): Pleitiers und Bankrotteure

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Titel
Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
Köhler, Ingo; Rossfeld, Roman
Erschienen
Frankfurt 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hansjörg Siegenthaler

Den Herausgebern dieses Werkes ist zuzustimmen: «Ökonomisches Scheitern » individueller Akteure oder einzelner Firmen gehört nicht zu den gängigen Themen der Unternehmensgeschichte oder anderer historischer Disziplinen, und auch die Wirtschaftstheorie äussert sich zum Misserfolg der Menschen und ihrer einzelwirtschaftlichen Organisationen selten explizit. Mithin erschliesst der Band ein Forschungsfeld, das neue Einsichten in wirtschaftliches Handeln zu stiften verspricht. Zwar thematisiert eine evolutionstheoretisch angeleitete Analyse des unternehmerischen Erfolgs immer auch den Misserfolg, wenn sie nach Selektoren fragt, die über den Erfolg bestimmter Firmen entscheiden. Silke Fengler schliesst den Band ab mit einer Analyse der Gründe, die Agfa grössere Erfolge auf dem amerikanischen Markt verweigert haben. Natürlich gewinnt sie mit dieser Analyse auch Verständnis für den Erfolg von Kodak: Hier erklärt man mit dem Misserfolg auch den Erfolg vice versum. Das sehen die Bandherausgeber auch so, und deshalb arbeiten sie sorgfältig heraus, worum es geht, wenn man den individuellen oder einzelwirtschaftlichen Misserfolg nicht einfach im Beiwagen des Erfolgs beobachtet, sondern ihn als ein Problem sui generis ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Worum geht es?

Der Beitrag von Jan-Otmar Hesse führt uns an eine erste Antwort heran, indem er ein konzises kenntnisreiches Bild dessen entwirft, was die Ökonomie im Lauf ihrer Geschichte über individuelles Scheitern zu sagen hatte. Gebührende Beachtung schenkt er dabei den Anregungen von Joseph Schumpeter und Israel Kirzner. Beide definierten den Unternehmer als Träger erfolgsträchtiger Eigenschaften; der Unternehmer Schumpeter war innovativ, der Unternehmer Kirzner lernfähig. Dabei wählten sie beide eine Nominaldefinition des Unternehmers, die ein Scheitern an sich nicht thematisierte; ein lernunfähiger Mensch ist für Kirzner ex definitione kein Unternehmer. Aber ihre Nominaldefinitionen steuern Aufmerksamkeit, und die Entwicklung von Schumpeter zu Kirzner beinhaltet eine fundamentale Verschiebung des Fokus: Schumpeter nimmt mit seiner Definition ein Bündel von Motiven ins Visier, die einen Menschen zum Innovator werden lassen; Kirzner legt den Akzent auf die Lernkapazität, die dazu befähigt, situationsgerechtes Wissen auszubilden. Beide verweisen sie auf Dinge, die für ökonomisches Scheitern relevant sind und damit für die Arbeit am Thema des Bandes wichtig bleiben. – Dies zeigt implizit schon ein Beitrag, der sich eher am Rand des Themas zu bewegen scheint: Florian Schui entwirft einen weit gespannten dogmenhistorischen Überblick über Bewertungen dessen, was der französische Wirtschaftsminister Jean-Baptiste Colbert im Zeitalter des Sonnenkönigs an staatlichen Massnahmen zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklung entworfen und realisiert hat. Überaus kompetente Wirtschaftswissenschafter haben solche Bewertungen über Jahrhunderte hinweg formuliert, ohne dass sie sich bis heute auf ein konsensfähiges Urteil verständigt hätten. Wir neigen dazu, durchaus im Einklang mit Kirzner, in den Beitrag von Schui ein Fazit hineinzulesen, das er selber so nicht zieht: Wenn es sogar kompetenten Ökonomen nicht gelingt, den Colbertismus abschliessend zu beurteilen, dann liegt das offenbar daran, dass es ganz generell für alle Akteure, auch für Unternehmer, auch für einen selbständig erwerbenden Künstler, sehr schwierig ist, ökonomische Wirkungszusammenhänge zu durchschauen und persönliche Marktchancen korrekt zu antizipieren. Christian Saehrendt ringt um Verständnis für das herbe Schicksal, das den französischen Kunstmaler Gustave Courbet am Ende seines Lebens heimgesucht hat: Courbet begeisterte vor 1870 eine grosse Käuferschaft mit seinen romantisch-realistischen, häufig sozialkritisch gestimmten Bildern. Nach dem französischpreussischen Krieg solidarisierte er sich mit den Kommunarden und wurde nach der Niederschlagung der «Commune» des Landes verwiesen. Damit verlor er seinen Markt. War er nun gescheitert? Saehrendt attestiert ihm in seiner Arbeit als Künstler zunächst ein Flair für Zeitstimmungen und Marktlagen; die Solidarisierung mit den Kommunarden reflektiert mithin eine falsche Einschätzung der historischen Lage, und diese Fehleinschätzung begründet den Abstieg. Doch verdiente wohl auch die Frage nach den Motiven Beachtung: Wenn man den sozialkritischen Impetus ernst nimmt, der sich in seinen Bildern andeutet, dann kann man im politischen Aktivismus eine Erfüllung selbst gewählter Lebensziele sehen.

Boris Gehlen und Tim Schanetzky untersuchen sehr kenntnisreich die Rivalität um Führung und Kontrolle massgeblicher Firmen der Montanindustrie zwischen Paul Silverberg und Friedrich Flick, eine Rivalität, die 1933 mit einem eindeutigen Sieg von Flick endete. Warum unterlag Silverberg seinem Gegner? Weil er die Rolle des Unternehmers nicht so spielte – so die These –, wie sie die Autoren unter Berufung auf eine Nominaldefinition von Fritz Redlich einleitend umschreiben: Es habe der Unternehmer auf Marktanreize zu reagieren, um im Wettbewerb bestehen zu können, und dieser Aufgabe habe er sonstige Ambitionen unterzuordnen. Genau dazu sei Silverberg schlicht nicht fähig gewesen. Doch kann man Redlich anders lesen, als ihn Gehlen und Schanetzky gelesen haben. Seine Nominaldefinition lässt die Frage nach den Motiven, die die Menschen in ihrer Rolle als Unternehmer wirklich anleiten, vollkommen offen. Auch war Redlich ein Meister historischer Kontextualisierung; er hätte Verständnis eingefordert für eine sehr politische Persönlichkeit, die in der Endphase der Weimarer Republik den aufrechten Gang höher schätzte als den Zusammenhalt seines Firmenimperiums.

Menschen sind, so war zu überlegen, lernende, vielfältig motivierte Menschen, die Erfolg haben, wenn sie sich Ziele angemessen, das heisst dem historischen Kontext angemessen, setzen. Lernfähigkeit meint auch die Fähigkeit, diesen Kontext adäquat zu beschreiben. Diese Fähigkeit ist jedoch nicht allein ein Attribut individueller Akteure, sondern auch und in hohem Masse der institutionell- organisatorischen Bedingungen, unter denen die Akteure lernen. Über solche Bedingungen belehrt uns der Band in vielfältiger Weise, auch über Ambivalenzen, die die Lernträchtigkeit der einen oder anderen Bedingungskonstellation kennzeichnen. Kommunikative Vernetzungen zum Beispiel begünstigen soziales Lernen. Aber sie begrenzen auch Wahrnehmungs- und Denkhorizonte. Diese Ambivalenz arbeitet Roman Wild mit tiefem Verständnis für das Problem heraus, wenn er den Niedergang der Basler Seidenbandweberei interpretiert und das Milieu der Basler Seidenherren mitverantwortlich macht für die Trägheit, mit der sie den Modewandel der zwanziger Jahre registriert haben. Der Beitrag von Heike Knortz über Hemmnisse industrieller Entwicklung am Oberrhein lässt solches Problemverständnis leider vermissen; ihre These, wonach die räumliche Nähe verwandter Industriebetriebe gemeinsame Entwicklung begünstige, müsste durch präzise Analyse kommunikativer Vernetzung auf die angesprochene Ambivalenz hin untersucht werden. Die schöne, auf gründlicher Quellenarbeit basierende Untersuchung von Roman Rossfeld, des einen der beiden Herausgeber, über die kurze Episode eines abortiven Versuches, im Kanton Luzern die Schokoladeindustrie anzusiedeln, ist mit dem eben monierten Mangel nicht behaftet. Rossfeld hat es mit Angehörigen führender Schichten der Luzerner Gesellschaft zu tun, die sich auf ein Industrieprojekt eingelassen haben, ohne mit den branchenspezifischen Problemen der Schokoladeproduktion hinreichend vertraut zu sein. Kommunikative Vernetzung hat zur Kompensation des Defizits an Kompetenz wenig beitragen können. – Kompetenzmangel machen Cathrin Kronenberg und Boris Gehlen auch für den Niedergang des überaus traditionsreichen deutschen Schokoladeproduzenten Gebrüder Stollwerck AG verantwortlich. Ganz anders als in Luzern verfügte man hier durchaus über bewährte Geschäftsmodelle alter Tradition. Aber auch an solchen Geschäftsmodellen kann man scheitern, wenn man sie in neuem Kontext nicht loswird.

In welcher Weise ein historischer Kontext und individuelle bzw. einzelwirtschaftliche Fehlleistungen im Versagen dieses oder jenes Unternehmens genau zusammenspielen, macht Ingo Köhler in seiner überzeugenden Studie über ökonomisches Scheitern deutscher Firmen in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts explizit zum Thema. Die damalige Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft versteht er als Stunde der Wahrheit, in der offen zutage trat, was sich in besseren Zeiten auf verschiedensten Ebenen ungestraft eingeschliffen hatte.

Reinhold Bauer bringt in seinem überaus gelungenen Text über gescheiterte Innovationen ein Fazit des Bandes sehr schön auf den Punkt: Innovatives Handeln ist aus mancherlei Gründen irrtumsanfällig, «das Risiko des Scheiterns ist also immer gegeben» (S. 363). Dieses Risiko ist letztlich nicht beherrschbar, weder durch lehrbuchgerechtes Management noch durch gut durchdachte institutionelle Rahmenbedingungen. – Niemand wird dies als Empfehlung verstehen, Bemühungen um Abbau von Risiken zu desavouieren.

Zitierweise:
Hansjörg Siegenthaler: Rezension zu: Ingo Köhler, Roman Rossfeld (Hg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 189-191.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 1, 2016, S. 189-191.

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